2. Verfassungsrechtliche Grundlagen der Einkommensbesteuerung
Im Rechtsstaat gilt der Grundsatz des Vorrangs der Verfassung. In Deutschland ist dieser allgemein in Art. 20 Abs. 3 GG und konkret für den Bereich der Grundrechte in Art. 1 Abs. 3 GG geregelt. Danach gelten die Grundrechte unmittelbar und haben unbedingten Vorrang gegenüber einfachen Gesetzen wie dem EStG. Daher sind die Grundrechte elementar, wenn es um die Einkommensbesteuerung geht.
Besonders relevant sind dabei der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), das „Gebot der sozialen Steuerpolitik, die auf die Belange der schwächeren Schichten der Bevölkerung Rücksicht zu nehmen hat“1 (aus Art. 20 Abs. 1 GG) sowie das Gebot der Freistellung des Existenzminimums (aus Art. 1 Abs. 1 GG). Die Diskussion zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen der Einkommensbesteuerung ist äußerst umfangreich, daher wird die folgende Darstellung auf die für diese Arbeit wesentlichen Punkte beschränkt.
2.1. Allgemeiner Gleichheitssatz, Leistungsfähigkeits- und Äquivalenzprinzip
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG besagt, dass wesentlich gleiche Sachverhalte gleich und wesentlich ungleiche Sachverhalte ungleich behandelt werden müssen.2 Im Steuerrecht wurde dieses Grundrecht zum Grundsatz der steuerlichen Lastengleichheit konkretisiert: Steuerpflichtige müssen rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden. So ist gewährleistet, dass sich dem Steuergesetz „kein Stand und keine Person entziehen kann“3.
Auf diesem Grundsatz basiert das Leistungsfähigkeitsprinzip.4 Nach diesem soll jeder im Verhältnis seiner Mittel zum Staatshaushalt beitragen.5
Einen anderen Ansatz wählt das in der Rechtsordnung mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip gleichgestellte Äquivalenzprinzip. Nach diesem Prinzip sind Abgaben das Entgelt für einen Nutzen des Stpfl. bzw. für eine Leistung, die dieser vom Staat erhält.6 Für Lang haben beide Prinzipien einen eigenständigen Anwendungsbereich.7 Da die ESt hauptsächlich der allgemeinen Deckung des staatlichen Finanzbedarfs dient8, kann bei ihr das Äquivalenzprinzip nicht zur Anwendung kommen, sie unterliegt dem Anwendungsbereich des Leistungsfähigkeitsprinzips.
Anders als in der Weimarer Republik hat das Leistungsfähigkeitsprinzip keinen Verfassungsrang, sondern wird aus dem allgemeinen Gleichheitssatz abgeleitet.9
Der steuerliche Begriff der Leistungsfähigkeit ist daher abstrakt und wurde vom BVerfG auch nicht konkretisiert. Im Rahmen dieser Arbeit soll die Definition von Walzer herangezogen werden. Nach seiner Definition hat eine nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip gestaltete Steuerverteilung wirtschaftliche Grundgüter wie das Einkommen oder das Vermögen als Argument der BMG, ein steuerfrei gestelltes Existenzminimum und einen mit der BMG ansteigenden Durchschnittssteuersatz.10 Diese Definition lässt sich mit der im Folgenden vorgestellten vertikalen Steuergerechtigkeit und dem Gebot der Freistellung des Existenzminimums begründen.
2.2. Horizontale und vertikale Steuergerechtigkeit
Die Ausrichtung der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist nach dem BVerfG ein „grundsätzliches Gebot der Steuergerechtigkeit“11. Doch was ist Steuergerechtigkeit?
Walzer definiert sie als eine distributive (verteilende) Gerechtigkeit. Sie befasse sich also mit der gerechten Lastenverteilung, unabhängig von der Verfolgung finanz-, wirtschafts- oder sozialpolitischer Zwecke.12
Für Weber ist die gerechte Lastenverteilung ein „persönliches oder politisches Werturteil, das einer wissenschaftlichen Analyse nicht zugänglich ist“13.
Das BVerfG unterscheidet zwischen der horizontalen und der vertikalen Steuergerechtigkeit: „Im Interesse verfassungsrechtlich gebotener steuerlicher Lastengleichheit muss darauf abgezielt werden, Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit auch gleich hoch zu besteuern (horizontale Steuergerechtigkeit), während (in vertikaler Richtung) die Besteuerung höherer Einkommen im Vergleich mit der Besteuerung niedrigerer Einkommen angemessen ausgestaltet werden muss“14. Welche Besteuerung angemessen ausgestaltet ist, bleibt beim Begriff der vertikalen Steuergerechtigkeit aber wiederum offen. Er bedarf daher einer Wertekonkretisierung.15 Nach Weber erfordert vertikale Steuergerechtigkeit jedoch lediglich eine Steuerbelastung, die „mit steigender Bemessungsgrundlage streng monoton wächst“16. Dieser Auffassung kann gefolgt werden, wenn davon ausgegangen wird, dass mit dem Steuertarif keine dem Steuerrecht fremde Zwecke verfolgt werden.
Im deutschen Verfassungsrecht gilt allerdings das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG). Nach Jachmann hat jeder Einzelne für seine sozialstaatliche Einbindung eine Verantwortung für das Gemeinwohl und ist damit zur Staatsfinanzierung verpflichtet. Nach ihr „korrespondiert [der höheren Leistungsfähigkeit] im Sozialstaat eine höhere soziale Verantwortung“17. Gleichzeitig muss auf die Belange der schwächeren Bevölkerungsschichten Rücksicht genommen werden.18 Der Begriff der vertikalen Steuergerechtigkeit erfährt durch das Sozialstaatsprinzip also eine Einschränkung. Es bleibt dennoch offen, welche Form der Tarifgestaltung tatsächlich gerecht ist, dazu auch Abschnitt 3.5.2.
2.3. Gebot der Freistellung des Existenzminimums
Der Begriff des Existenzminimums stammt aus dem Bereich der Sozialhilfe. Nach § 1 S. 1 SGB XII ist deren Aufgabe, „den Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht“. Dieser Grundsatz geht aus der durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Menschenwürde hervor.
Aus diesem Begriff entstand das Gebot der Freistellung des Existenzminimums von der ESt. Nach dem BVerfG bildet das sozialhilferechtlich definierte Existenzminimum die „Grenze für das einkommensteuerliche Existenzminimum, die über-, aber nicht unterschritten werden darf“19. Dieses Prinzip wird im Steuerrecht auch als subjektives Nettoprinzip bezeichnet. Es handelt sich um ein „Verfassungsgebot“20.
Das subjektive Nettoprinzip konkretisiert gemeinsam mit dem objektiven Nettoprinzip (Berücksichtigung der Erwerbsausgaben bei der Berechnung des Einkommens21) das Leistungsfähigkeitsprinzip weiter. Die Leistungsfähigkeit wird demnach am Einkommen gemessen, das nach Abzug der Erwerbsausgaben und der unentbehrlichen Konsumausgaben noch übrig ist.
Nach dem BFH ist dabei eine typisierende, also pauschale Bestimmung des Existenzminimums zulässig, solange der Betrag „in möglichst allen Fällen den entsprechenden Bedarf [abdeckt]“22. Dies ist nachvollziehbar, da die Steuerverwaltung nicht für eine individuelle Prüfung sozialhilferechtlicher Fragen ausgelegt ist und diese Prüfung daher in der Verwaltungspraxis einen sehr hohen Aufwand bedeuten würde. Der BFH begründet die Pauschalierung auch mit der vom Sozialrecht abweichenden Zielsetzung des Steuerrechts. Da es nur auf die Bestimmung der Leistungsfähigkeit und nicht auf das konkrete Bedürfnis ankäme, sei die Pauschalierung nicht zu beanstanden.23