8. Der „Tarif auf Rädern“: Automatische Anpassung des Tarifs an die Kalte Progression

Im Gesetzgebungsverfahren des Familienentlastungsgesetzes wurde von den Bundestagsfraktionen der FDP sowie der AfD gefordert, einen Tarif auf Rädern einzuführen.1 Worum handelt es sich dabei?

Als Tarif auf Rädern wird ein Steuertarif bezeichnet, der sich automatisch anpasst, um die Kalte Progression im Zeitverlauf auszugleichen.2 Der Ursprung des Begriffs ist die Methode der Rechtsverschiebung: Die Tarifkurve fährt nach rechts.

Aufgrund des Rechtsstaatsprinzips muss diese Anpassung gesetzlich mit einer sog. Indexklausel geregelt sein. Sie bestimmt, dass es unter bestimmten Voraussetzungen zur Indexierung, also Anpassung des Tarifs an die Inflationsrate kommt. Es wird unterschieden zwischen folgenden Methoden:3

Aufgrund der regelmäßig dem BT vorgelegten Steuerprogressionsberichte gibt es in Deutschland faktisch bereits eine fakultative Indexierung des ESt-Tarifs. Die FDP und die AfD fordern jedoch, eine automatische Indexierung einzuführen, wie sie in der deutschen Rechtsordnung an verschiedenen Stellen bereits vorgesehen ist, so bspw. bei der Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung oder bei der Jahresarbeitsentgeltgrenze der gesetzlichen Krankenversicherung.4

8.1. Regelungen in anderen Staaten am Beispiel der schweizerischen direkten Bundessteuer

Von den OECD-Staaten haben u.a. die Schweiz (bei der direkten Bundessteuer sowie bei einigen kantonalen Einkommensteuern), die skandinavischen Staaten, Belgien, Großbritannien, die USA und Kanada einen Tarif auf Rädern. Die genaue Umsetzung unterscheidet sich.5 Im Folgenden soll exemplarisch der Tarif auf Rädern im Schweizer Bundesrecht betrachtet werden.

Die direkte Bundessteuer der Schweiz sieht zum Ausgleich der Kalten Progression seit 2011 einen Tarif auf Rädern mit automatischer Indexierung auf Basis der Inflationsrate vor. Davor gab es bereits eine Regelung zur obligatorischen Indexierung.6 Der Tarif auf Rädern hat Verfassungsrang (Art. 128 Abs. 3 BV).

Anders als der deutsche ESt-Tarif hat der Tarif der schweizerischen direkten Bundessteuer stellenweise einen fallenden Grenzsteuersatz.7 Aufgrund des dennoch stetig steigenden Durchschnittssteuersatzes hat diese Besonderheit jedoch keine Bedeutung für die Kalte Progression, denn für jede BMG ergibt sich bei Erhöhung der BMG eine höhere oder zumindest gleiche Durchschnittssteuerbelastung. Es kann somit nicht vorkommen, dass einzelne Stpfl. durch die Kalte Progression begünstigt werden. Der Tarif der direkten Bundessteuer ist damit für Zwecke dieser Betrachtung mit dem deutschen ESt-Tarif vergleichbar.

Da die automatische Indexierung in der Schweiz bereits seit einiger Zeit im Einsatz ist und eine Abschaffung nicht geplant ist, ist davon auszugehen, dass sie oder zumindest die obligatorische Indexierung grundsätzlich auch für den deutschen ESt-Tarif denkbar wäre.

8.2. Diskussion im Kontext des deutschen Einkommensteuertarifs

Über den Tarif auf Rädern werden in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion unterschiedliche Meinungen vertreten, die nun vorgestellt werden sollen. Dabei werden die automatische und die obligatorische Indexierung aufgrund ihrer ähnlichen Wirkung zusammengefasst.

8.2.1. Vorteile des Tarifs auf Rädern

Nach Altemeyer-Bartscher/Zeddies führe eine unregelmäßige Anpassung an die Kalte Progression zu Schwankungen in der Steuerbelastung, die aus verteilungspolitischer Sicht fragwürdig seien und Leistungsanreize mindern würden. Außerdem könne es zu Problemen aufgrund der Schuldenbremse kommen, da die Auswirkung der Kalten Progression im öffentlichen Haushalt momentan nicht berücksichtigt und damit die entstehende Steuererhöhung bereits fest eingeplant wird, wodurch eine Korrektur der Kalten Progression durch andere Maßnahmen im Haushalt gegenfinanziert werden muss.8 Nach dem Bund der Steuerzahler sei eine automatische Indexierung hingegen rechtzeitig kalkulierbar, sodass sie bei den Steuerschätzungen bereits berücksichtigt werden könne und die Mehreinnahmen gar nicht erst bei der Aufstellung künftiger Haushalte verplant werden könnten.9 Dem kann entgegengehalten werden, dass der Gesetzgeber den Effekt der Kalten Progression auch ohne Indexierung im Haushaltsplan berücksichtigen könnte – abhängig davon, ob und inwieweit ein Ausgleich der Kalten Progression tatsächlich geplant ist.

Da eine Indexierung bei den Beiträgen zur Sozialversicherung erfolgt (hier steigt die nominale Beitragsbelastung mit der Zeit), sei es nach Bültmann folgerichtig, die Steuerbelastung so zu indexieren, dass sich die Kalte Progression nicht auswirkt, ansonsten betreibe der Staat „Rosinenpicken“10. Auch hier gilt jedoch: Solange der Ausgleich der Kalten Progression erfolgt, ist das Ergebnis dasselbe – unabhängig davon, ob per automatischer/obligatorischer Indexierung oder fakultativ.

Eine automatische Indexierung würde jedoch sicherstellen, dass die Anpassung an die Kalte Progression auch bei einer Veränderung der politischen Mehrheitsverhältnisse oder bei schlechter Haushaltslage durchgeführt wird.11Warneke vom Bund der Steuerzahler sieht die Indexierung daher als „starkes Signal der Verlässlichkeit der Politik“12. Nach der FDP-Fraktion im Bundestag werde durch eine Indexierung vermieden, dass der Steuerzahler „jedes Jahr zum Bittsteller werde“13.

8.2.2. Nachteile des Tarifs auf Rädern

Steuersenkungen werden immer wieder als Wahlversprechen eingesetzt, auch sonst spielt die Veränderung der Steuerbelastung in der politischen Debatte eine große Rolle. Würde man einen Tarif mit automatischer/obligatorischer Indexierung einführen, verbliebe nur noch ein geringes Volumen für Steuersenkungen, denn dieses wird umso größer, je länger die Anpassung hinausgeschoben wird.14

Auch könnte die Kalte Progression als potenzielle Einnahmequelle in schlechten Zeiten offen gehalten werden15, es ließen sich neue Ausgabenbedarfe finanzieren16 und es würde der Spielraum erhöht werden, anderen wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Zielsetzungen wie der Stabilitätspolitik gerecht zu werden. So kann mit einer Indexierung keine antizyklische Fiskalpolitik verwirklicht werden.17 Alle diese Begründungen für einen vorübergehenden Verzicht auf den Ausgleich der Kalten Progression wären wegen dem Leistungsfähigkeitsprinzip (das mit solchen willkürlichen Ausnahmen nicht kompatibel ist) zwar problematisch, sind aber eine nachvollziehbare Erklärung, wieso es derzeit keinen Tarif auf Rädern gibt.

Nach Auffassung des BMF würde das Parlament einen Teil seiner Budgethoheit verlieren. Außerdem bestünde die Gefahr, dass weitere Regelungen innerhalb und außerhalb des Steuerrechts (bspw. auch Tarifverträge) ebenfalls indexiert werden würden und so Inflationstendenzen verstärkt oder gefördert werden könnten.18

8.2.3. Zwischenfazit zum Tarif auf Rädern

Es zeigt sich, dass die Argumente für den Tarif auf Rädern keine zwingenden Argumente sind, denn ein Tarif auf Rädern ist im Endeffekt lediglich eine Selbstverpflichtung des Gesetzgebers. Dies würde insbesondere dann relevant werden, wenn es zu einem Regierungswechsel kommt und die neuen Regierungsfraktionen nicht mehr bereit wären, die Kalte Progression auszugleichen. Durch einen Tarif auf Rädern mit Verfassungsrang (wie in der Schweiz) wäre es dann nur aufwändig möglich, auf die Anpassung zu verzichten. Bei einer einfach-gesetzlichen Regelung wäre eine begründete Aussetzung der Anpassung jedoch weiterhin möglich.19

Die Kalte Progression ist nur ein politisches Problem unter vielen. Es erscheint daher problematisch, die Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers zu beschränken. Dies gilt insbesondere deshalb, weil die ESt zusammen mit der LSt die aufkommensstärkste Steuer in Deutschland ist20, von der der öffentliche Haushalt damit ganz besonders stark abhängt.

Ein Tarif auf Rädern wird nicht benötigt, sofern der Gesetzgeber die Kalte Progression bei seinen Gesetzgebungsvorhaben angemessen und zeitnah berücksichtigt. Da derzeit bereits regelmäßige Steuerprogressionsberichte vorgelegt werden und diese bei der Gesetzgebung berücksichtigt werden, ist hiervon auszugehen. Es bleibt zu hoffen, dass sich der Trend der letzten Gesetzgebungsverfahren zum Ausgleich der Kalten Progression fortsetzt.