1. Einleitung

Folgt man der Prognose des Arbeitskreises Steuerschätzung, werden die Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden in den nächsten Jahren weiter sprudeln. Die Bundesregierung möchte den sich daraus bis zum Jahr 2022 ergebenden finanziellen Spielraum von 10,8 Milliarden Euro auch dafür nutzen, der Kalten Progression „wirksam zu begegnen“1. Jedoch habe sich die Kalte Progression laut dem zweiten und dritten Steuerprogressionsbericht der Bundesregierung durch die bisher schon vorgenommenen Korrekturen am ESt-Tarif in den letzten Jahren ohnehin nur gering ausgewirkt, für 2018 und 2019 sei es sogar zu einer Überkompensation gekommen.2

Doch was ist die Kalte Progression überhaupt? Grundsätzlich handelt es sich dabei um eine heimliche Erhöhung der ESt, ohne dass sich dies durch eine erhöhte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Stpfl. begründen lässt. Hinsichtlich des Umfangs dieser Steuererhöhung wird in der wissenschaftlichen Diskussion zwischen der Kalten Progression i.e.S. und der Kalten Progression i.w.S. unterschieden.3 Durch die jeweilige Definition wird versucht, den Effekt der Kalten Progression von anderen Effekten abzugrenzen. Daher ist die verwendete Definition entscheidend, wenn dann in der politischen Diskussion über die tatsächliche Auswirkung und damit über die politische Bedeutung der Kalten Progression gesprochen wird.

Ziel dieser Arbeit ist es, zu definieren, welcher Teil der „heimlichen Steuererhöhung“ aufgrund unveränderter wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit tatsächlich illegitim ist. Hieraus soll dann eine Definition der Kalten Progression abgeleitet werden, die diesen illegitimen Teil möglichst genau beschreibt. Mit der so entwickelten Definition kann die Auswirkung der Kalten Progression bestimmt sowie ein möglicher Lösungsansatz gefunden werden.

In den Abschnitten 1–4 werden zunächst die hierfür notwendigen Grundlagen erläutert. Hierzu gehört insbesondere der momentane ESt-Tarif im Kontext der verfassungsrechtlichen Grundlagen der Einkommensbesteuerung. Auch auf die Begriffe der Kaufkraft und der Inflation sowie auf deren Auswirkung wird zum besseren Verständnis kurz eingegangen.

Auf Basis dieser Grundlagen kann anschließend der Begriff der Kalten Progression definiert und in die zuvor vorgestellten Grundlagen eingeordnet werden. Hierzu sollen die verbreiteten Definitionen der Kalten Progression vorgestellt und mit Hinblick auf ihre Folgen für die Grundsätze der Einkommensbesteuerung diskutiert werden.

Anhand der so entwickelten Definition der Kalten Progression kann daraufhin die Berechnung ihrer Auswirkung dargestellt und die Auswirkung zunächst grundsätzlich und dann auf Basis der tatsächlichen Werte des Zeitraums 2008–2017 bestimmt werden. Anschließend wird diese Definition verwendet, um verschiedene Ausgleichsmethoden hinsichtlich ihrer Wirkung zu überprüfen.

Schließlich soll am Beispiel des Schweizer „Tarifs auf Rädern“ diskutiert werden, ob statt der momentanen flexiblen Anpassung des ESt-Tarifs durch den Gesetzgeber eine automatische Anpassung des Tarifs an die Kalte Progression notwendig und sinnvoll ist.

Auch die Höhe der Freibeträge und Freigrenzen bei der Ermittlung des zvE wirkt sich auf die Kalte Progression aus. Hinsichtlich des Umfangs dieser Arbeit kann auf diese Auswirkung allerdings nicht eingegangen werden. Die Betrachtung wird insofern auf den ESt-Tarif beschränkt.

Es wird nur auf die Folgen der Kalten Progression für den Einzelnen eingegangen. Folgen für die Gesamtgesellschaft sowie für den öffentlichen Haushalt werden dabei nur insoweit angesprochen, wie dies für die Betrachtung erforderlich ist.