6. Auswirkung der Kalten Progression auf den Einzelnen

6.1. Berechnung der Auswirkung

Nach der eben festgelegten Definition ist jede Erhöhung des Durchschnittssteuersatzes bei konstantem Realeinkommen der Effekt der nicht (vollständig) ausgeglichenen Kalten Progression. Mit dieser Erkenntnis kann nun die Auswirkung der Kalten Progression auf den Einzelnen berechnet werden.

Gemäß Beispiel 6 ist das Realeinkommen im Vergleich zum Vorjahr genau dann konstant, wenn das Nominaleinkommen dem Nominaleinkommen des Vorjahres multipliziert mit der Inflationsrate + 100 % entspricht. Bei einer Inflationsrate von 2 % muss das Nominaleinkommen des Vorjahres also mit 102 % multipliziert werden, um das angepasste Nominaleinkommen des aktuellen Jahres zu erhalten.

Die BMG des ESt-Tarifs ist das zvE. Wie in Abschnitt 3.2 festgestellt wurde, werden bei dessen Berechnung private Abzüge berücksichtigt. Auch diese steigen mit der Zeit an, da sie entweder an das Einkommen gekoppelt sind (wie Sozialversicherungsbeiträge) oder selbst von der Inflation betroffen sind (wie sonstige Vorsorgeaufwendungen).

Um die Gesamtauswirkung der Kalten Progression zu bestimmen, ist es daher nicht ausreichend, lediglich das zvE mit der Inflationsrate anzupassen.1 Für eine umfassende Berechnung wird ein vollständiges Simulationsmodell des ESt-Rechts benötigt.2 Da ein solches nicht vorliegt und die Darstellung der Berechnung zu umfangreich wäre, beschränkt sich die folgende Betrachtung auf die Auswirkung des progressiven Tarifs als solches. Hierfür ist eine Erhöhung des zvE um die Inflationsrate zutreffend. Die Berücksichtigung der Faktoren innerhalb der BMG würde hier sogar zu einer Verfälschung des Ergebnisses führen.

Damit steht nun fest, wie das angepasste zvE als Eingabewert der Berechnung ermittelt wird. Nun muss noch bestimmt werden, wie das Ergebnis – der Verlust aus der Kalten Progression – anzugeben ist. Hierfür muss zunächst der Steuerbetrag berechnet werden, der sich bei einem umfassenden Ausgleich der Kalten Progression hätte ergeben müssen. Mit diesem fiktiven Steuerbetrag muss sich ein identischer Durchschnittssteuersatz ergeben.3 Der Verlust aus der Kalten Progression in absoluten Zahlen ist nun der tatsächlich auf das angepasste zvE zu zahlende Steuerbetrag abzüglich des fiktiven Steuerbetrags.

Die absolute Mehrsteuer ist jedoch kein geeignetes Maß für die Auswirkung der Kalten Progression, da diese bei hohen Einkommen naturgemäß höher ausfällt. Sinnvoll ist eine prozentuale Angabe im Verhältnis zum zvE. Dieser Anteil berechnet sich wie der Durchschnittssteuersatz und stellt die Mehrbelastung aus der in Abschnitt 5.5 definierten Kalten Progression damit zutreffend dar.4

Die Berechnung kann in folgenden Formeln ausgedrückt werden:

Für den VZ 01 wird der Steuerbetrag S01 auf das zvE X01 ermittelt. Das zvE X01 wird nun um die Inflationsrate I erhöht: X02=X01·1+I. Genauso wird der Steuerbetrag S01 erhöht: S02I=S01·1+I. Der angepasste Steuerbetrag S02I hat für das erhöhte zvE X02 denselben Durchschnittssteuersatz wie S01 für X01, denn es gilt:

Durchschnittssteuersatz=SteuerbetragBMG=S02IX02=S01·1+IX01·1+I=S01X01

Die tatsächliche Steuer S02T für den VZ 02 weicht jedoch aufgrund der Kalten Progression ab. Die Differenz der beiden Beträge V=S02T-S02I ist der Verlust aus der Kalten Progression. Er wird prozentual angegeben mit V%=VX02.

Die Stpfl. S hatte im VZ 01 ein zvE von X01=35.000 €. Die Steuer hierauf beträgt S01=7.000 €. Um die fiktive Inflationsrate von 2 % erhöht ergeben sich die Beträge X02=35.700 € und S02I=7.140 €. Die tatsächlich für den VZ 02 festzusetzende Steuer beträgt jedoch X02T=7.200 €, es ergibt sich ein Verlust V=7.200 €-7.140 €=60 €. Er beträgt V%=60 €35.700 €=0,17 % des zvE.

6.2. Auswirkung bei unverändertem Einkommensteuertarif

In diesem Abschnitt wird zunächst von einem unveränderten ESt-Tarif ausgegangen. Wendet man diesen auf die mit der Inflation gestiegenen Einkommen an, so erhält man nach obiger Berechnung den Verlust aus der Kalten Progression. Insbesondere kann mit dem unveränderten Tarif die Auswirkung der Kalten Progression auf unterschiedliche Einkommensgruppen betrachtet werden und daraus abgeleitet werden, welche Einkommensgruppen besonders durch den Effekt der Kalten Progression belastet sind.

Dar. 4 zeigt den prozentualen Verlust aus der Kalten Progression, der sich ergibt, wenn das jeweilige zvE um eine Inflationsrate von 2 % erhöht wird. Die Berechnung basiert auf dem unveränderten ESt-Tarif 2019.

zvE 0 € 30.000 € 60.000 € 90.000 € 120.000 € 150.000 € 180.000 € 210.000 € 240.000 € 270.000 € 300.000 € ProzentualerVerlust 0 % 0,1 % 0,1 % 0,2 % 0,3 % 0,2 % 0,4 % 0,5 % 0,3 % 0,6 % 0,7 % 0,4 % 0,8 % 14.000 €29.000 €55.000 €260.000 €266.000 €
Dar. 4: Auswirkung der Kalten Progression bei unverändertem ESt-Tarif

Es zeigt sich, dass alle Einkommensgruppen durch die Kalte Progression belastet werden. Dies ist nachvollziehbar, da der deutsche ESt-Tarif stetig progressiv ist und es keine regressiven Zonen gibt, in denen ein höheres zvE eine niedrigere Durchschnittssteuerbelastung ergibt.

Allerdings unterscheidet sich die prozentuale Belastung zwischen den Einkommensgruppen. Die Bezieher geringer und mittlerer Einkommen an den Tarifzonengrenzen (siehe Dar. 2) werden besonders stark durch die Kalte Progression belastet.

Dies ist damit begründet, dass der Grenzsteuersatz bei hohen Einkommen in den Proportionalzonen konstant bleibt. Dadurch nähert sich der Durchschnittssteuersatz immer weiter diesem konstanten Grenzsteuersatz an. Wie in Abschnitt 3.5 festgestellt wurde, wirkt sich die Progression und damit auch die Kalte Progression in diesen Zonen daher nur gering aus.

Lediglich nahe der Zonengrenze zwischen den beiden Proportionalzonen lässt sich aufgrund des dort von 42 % auf 45 % steigenden Grenzsteuersatzes eine Mehrbelastung feststellen, die aber im Vergleich zur Mehrbelastung geringer und mittlerer Einkommen nicht genauso stark ins Gewicht fällt.

In der interaktiven Darstellung kann die Inflationsrate variiert werden.

Es zeigt sich, dass die durch die Kalte Progression besonders belasteten Einkommensbereiche nicht von der Inflation abhängen. Lediglich bei den hohen Einkommen lässt sich feststellen, dass die dortige „Belastungsstufe“ je früher beginnt, desto höher die Inflationsrate ist. Die Ursache ist, dass die Nominaleinkommen bei hohen Anpassungsraten stärker steigen. Je höher die Inflationsrate also ist, desto geringere Einkommen rutschen durch die Inflationsanpassung in die zweite Proportionalzone. Da sich hohe Einkommen durch die prozentuale Anpassung in absoluter Höhe stärker verändern als geringe Einkommen, kann dieser Effekt in der Darstellung besonders an dieser Stelle und nur geringfügig bei den mittleren Einkommen festgestellt werden.

Offensichtlich ist zudem, dass die prozentuale Mehrbelastung aus der Kalten Progression proportional mit der Inflationsrate steigt. Je höher die Inflationsrate, desto stärker tritt der Effekt der Kalten Progression auf. Dies ist naheliegend, da bei einer Inflationsrate von null gar keine Kalte Progression auftreten kann.

Interessant sind auch die Belastungsschwankungen im Bereich zwischen den beiden lokalen Höchstständen der geringen und mittleren Einkommen. Diese Schwankungen zeigen sich in der Darstellung durch eine ungleichmäßige Kurve. Begründet sind sie durch die Rundungsvorschrift des § 32a Abs. 1 S. 6 EStG.

6.3. Tatsächliche Auswirkung im Zeitraum 2008–2017

Im Folgenden soll nun die tatsächliche Auswirkung in den letzten Jahren bestimmt werden. Hierfür sind die tatsächlich jeweils geltenden Tarifvorschriften sowie die Inflationsraten der jeweiligen Jahre (siehe Dar. 3) zu berücksichtigen. Der berechnete Verlust aus der Kalten Progression ist dann der verbleibende Verlust nach dem Ausgleich durch Tarifänderungen. Wurde der Effekt der Kalten Progression durch Tarifänderungen überkompensiert, kann es auch zu einem Gewinn kommen.

Zunächst ist der Betrachtungszeitraum festzulegen. Es ist angebracht, dass im gewählten Zeitraum keine wesentlichen Tarifreformen enthalten sind, da umfassende Reformen meist mit Änderungen an anderer Stelle einhergehen, die bei der reinen Betrachtung des Tarifs ausgeblendet werden würden. Solange dies sichergestellt ist, hat der genaue Betrachtungszeitraum keine Auswirkung auf das Ergebnis. Er sollte jedoch so lang wie möglich sein, um zu vermeiden, dass kurzfristige Schwankungen das Ergebnis verfälschen.

Seit 2007 gibt es die „Reichensteuer“ von 45 %. Erst seit 2008 gilt sie jedoch für alle Einkunftsarten. Da bis auf die Verschiebung der Tarifzonen seit 2008 keine Veränderungen am Tarif vorgenommen worden sind, ist der Zeitraum ab 2008 ein geeigneter Betrachtungszeitraum. Die Inflationsrate liegt bis einschließlich 2017 vor, daher wird der Zeitraum 2008–2017 betrachtet.

In Dar. 5 ist der verbleibende prozentuale Verlust (negative Werte) bzw. Gewinn (positive Werte) aus der Kalten Progression dargestellt. Dabei werden die Werte von Jahr zu Jahr berechnet, um eine Basisjahrproblematik zu vermeiden.5

2008200920102011201220132014201520162017Gewinn/Verlust -0,5 % -0,4 % -0,3 % -0,2 % -0,1 % 0,0 % 0,1 % 0,2 % 0,3 % 0,4 % 0,5 % -0,4 %0,5 %0,2 %-0,3 %-0,3 %-0,1 %0,2 %0,1 %0,2 %-0,0 %
Dar. 5: Tatsächliche Auswirkung der Kalten Progression im ESt-Tarif im Zeitraum 2008–2017

In der interaktiven Darstellung kann das betrachtete zvE frei eingestellt werden.

Im Kontext der jeweiligen Inflationsraten (Dar. 3) zeigt sich, dass der verbleibende Verlust für alle Einkommensgruppen geringer ist als der in Dar. 4 dargestellte Verlust bei unterbliebener Anpassung. Der Grund hierfür ist die kontinuierliche Rechtsverschiebung des Tarifs (siehe die interaktive Dar. 2), durch die auch ohne konkreten Bezug auf die Kalte Progression ein (Teil-)Ausgleich der Kalten Progression erfolgt ist.6 So kam es dazu, dass der Effekt der Kalten Progression zeitweise sogar überkompensiert wurde.

Da in den VZ 2013–2015 und 2017 der Grundfreibetrag stärker angepasst wurde als die übrigen Zonengrenzen, ist die Mehrbelastung in diesen Jahren für Bezieher geringer Einkommen besonders niedrig. Im VZ 2009 entstand die starke Entlastung der Bezieher geringer Einkommen insbesondere durch die Senkung des Eingangssteuersatzes.