7. Ausgleich der Kalten Progression im Einkommensteuertarif

Wie in Abschnitt 5.5 festgestellt wurde, ist der Ausgleich der Kalten Progression zwar nicht durch die Verfassung vorgeschrieben, aber aufgrund des Leistungsfähigkeitsprinzips geboten.

Auch das BMF befürwortet den zeitnahen Ausgleich des Effekts der Kalten Progression, denn die Steuermehrbelastungen gingen „letztlich an der Absicht des Gesetzgebers vorbei“1. Auch zeige die Bundesregierung mit dem Ausgleich, dass sie kein Interesse an hohen Inflationsraten habe, da „der Staat keineswegs zum Profiteur der Geldentwertung wird“2.

Der Tarif (und die in Euro bestimmten Beträge in der BMG, siehe Abschnitt 5.1) sind daher anzupassen. Als Anpassungsmaßstab ist die Inflationsrate zu verwenden.3 Die folgende Betrachtung beschränkt sich zur Vereinfachung erneut auf den Ausgleich der Kalten Progression im Tarif.

7.1. Zulässigkeit der Pauschalierung mit der Inflationsrate

In Abschnitt 4.1 wurde gezeigt, dass jeder Verbraucher eine persönliche Inflationsrate hat. Insbesondere unterscheidet sich die Inflationsrate zwischen verschiedenen Einkommensgruppen.4 Die Anpassung mit der statistisch ermittelten Inflationsrate ist daher eine Pauschalierung, deren Zulässigkeit nun zu prüfen ist.

Nach der ständigen BFH-Rechtsprechung ist die Pauschalierung des Existenzminimums mit dem Grundfreibetrag zulässig (siehe Abschnitt 2.3). Genau wie die Festlegung des Grundfreibetrags ist auch der Ausgleich der Kalten Progression eine Maßnahme im Bereich des Tarifs, die vom Leistungsfähigkeitsprinzip bestimmt wird. Es spricht damit analog dieser Rechtsprechung nichts gegen eine Pauschalierung der Kalten Progression mit der Inflationsrate.

7.2. Überblick über die bisherigen Maßnahmen des deutschen Gesetzgebers

Der ESt-Tarif wurde in den letzten Jahrzehnten immer wieder verändert und angepasst, insbesondere der Grundfreibetrag sowie die Eckwerte des Tarifverlaufs. Diese Anpassungen hatten ebenfalls Auswirkungen auf den Effekt der Kalten Progression, waren jedoch meist wenig systematisch.5 Da sich die Kalte Progression kontinuierlich auswirkt, waren diese unregelmäßigen Anpassungen zudem ungeeignet, um die Kalte Progression vollständig abzubauen, siehe auch Dar. 5.6

Die erste konkrete Maßnahme gegen die Kalte Progression sollte das Gesetz zum Abbau der Kalten Progression vom 20.02.2013 (BGBl. I 2013, S. 283) sein. Geplant war eine prozentuale Anpassung des Tarifverlaufs.7 Da diese Anpassung das Steueraufkommen reduziert hätte, kam es schließlich aufgrund von politischem Widerstand der Länder8 nur insoweit zur Anpassung des Tarifs, wie es verfassungsrechtlich geboten war – der Grundfreibetrag wurde angehoben.

Mit diesem Gesetz hat der Bundestag jedoch eine Entschließung angenommen, mit der die Bundesregierung beauftragt wurde, dem Bundestag alle zwei Jahre einen Steuerprogressionsbericht vorzulegen. Nach dieser Entschließung verbleibt die Entscheidung über Änderungen im Tarifverlauf und damit über den Ausgleich der Kalten Progression beim Bundestag.9 Die Steuerprogressionsberichte haben demnach rein informativen Charakter.

Erstmals ab dem VZ 2016 kam es im Gesetz zur Anhebung des Grundfreibetrags, des Kinderfreibetrags, des Kindergeldes und des Kinderzuschlags vom 16.07.2015 (BGBl. I 2015, S. 1202) aufgrund einer Empfehlung des Finanzausschusses des BT10 zu einer Rechtsverschiebung des gesamten Tarifs um die Inflationsrate.

Seitdem wurde der Tarif für jeden VZ jeweils an die voraussichtliche Inflationsrate angepasst, zuletzt für die VZ 2019 und 2020 mit dem Familienentlastungsgesetz vom 29.11.2018 (BGBl. I 2018, S. 2210). Mit diesem Gesetz wurde die Wirkung der Kalten Progression voraussichtlich überkompensiert, da von zu hohen Inflationsraten ausgegangen worden war.11

Die Maßnahmen zur Tarifanpassung lassen sich auch an der Grenzsteuersatzkurve in der interaktiven Dar. 2 ablesen.

Im Vergleich zum ESt-Tarif 2010–2012 hat sich in den ESt-Tarifen 2013, 2014 und 2015 lediglich der Grundfreibetrag geändert, die Grenzsteuersätze in der zweiten Progressionszone und in den Proportionalzonen blieben gleich. Dies lässt sich erkennen, wenn die rote Markierung in diese Tarifzonen verschoben wird. Beim Wechsel des Tarifs verändert sich der Grenzsteuersatz nicht.

Seit dem Tarif 2016 hat sich der Grenzsteuersatz in diesen Tarifzonen hingegen in jedem VZ geändert.

7.3. Wirksamkeit verschiedener Ausgleichsmethoden im progressiven Tarif

Es wurden bereits mehrere Methoden zum Ausgleich der Kalten Progression angewendet. Diese und weitere denkbare Methoden sollen nun betrachtet werden.

7.3.1. Anhebung des Grundfreibetrags

Da sich die Kalte Progression wie in Abschnitt 6.2 festgestellt besonders auf geringe bis mittlere Einkommen auswirkt, liegt es nahe, sie durch eine Anhebung des Grundfreibetrags auszugleichen, denn hiervon profitieren insbesondere diese Einkommensgruppen.12 Diese Methode wurde im Gesetz zum Abbau der Kalten Progression angewendet, jedoch hier nur als Kompromiss (siehe oben).

In Dar. 6 ist dargestellt, wie sich der ESt-Tarif 2019 verändert, wenn der Grundfreibetrag (zur Verbesserung der Sichtbarkeit) um 10 % angehoben wird (Tarif 2019 gepunktet).

zvE 0 € 10.000 € 20.000 € 30.000 € 40.000 € 50.000 € 60.000 € 70.000 € 80.000 € 90.000 € 100.000 € Grenz-steuersatz 0 % 5 % 10 % 15 % 20 % 25 % 30 % 35 % 40 % 45 % 50 %
Dar. 6: Auswirkung der Erhöhung des Grundfreibetrags auf die Tarifkurve

In der interaktiven Darstellung kann der Anpassungsprozentsatz eingestellt werden. Es zeigt sich, dass die Kurve des Grenzsteuersatzes in der ersten Progressionszone umso steiler verläuft, je stärker man den Grundfreibetrag anhebt – vorausgesetzt, die übrigen Eckwerte des Tarifs bleiben konstant. Durch den steileren Verlauf erhöht sich der Progressionsgrad.13 Dies ist ein unerwünschter Nebeneffekt dieser Ausgleichsmethode.

In Dar. 7 ist nun analog der Dar. 4 der verbleibende prozentuale Verlust aus der Kalten Progression dargestellt, nachdem die zvE sowie der Grundfreibetrag des ESt-Tarifs 2019 um 2 % erhöht wurden. Der Verlust aus dem unangepassten Tarif ist zum Vergleich gepunktet dargestellt.

zvE 0 € 30.000 € 60.000 € 90.000 € 120.000 € 150.000 € 180.000 € 210.000 € 240.000 € 270.000 € 300.000 € VerbleibenderVerlust 0 % 0,1 % 0,1 % 0,2 % 0,3 % 0,2 % 0,4 % 0,5 % 0,3 % 0,6 % 0,7 % 0,4 % 0,8 % 55.000 €260.000 €266.000 €
Dar. 7: Verbleibender Verlust aus der Kalten Progression nach Erhöhung des Grundfreibetrags

Es wird sichtbar, dass durch die Anpassung des Grundfreibetrags die erste Belastungsspitze wegfällt und sich der Verlust aus der Kalten Progression somit für Bezieher geringer Einkommen wie vermutet reduziert. Mittlere und hohe Einkommen sind hingegen nur gering von der Ausgleichsmaßnahme betroffen.

Auch hier kann in der interaktiven Darstellung der Anpassungsprozentsatz variiert werden. Die Erkenntnisse entsprechen den grundsätzlichen Ergebnissen von Dar. 4.

Auch das BMF ist der Auffassung, dass mit der Anhebung des Grundfreibetrags zwar die Kalte Progression insgesamt ausgeglichen werden kann, nicht aber die individuelle tarifliche Mehrbelastung bei jedem Stpfl.14 Das Gesetz zum Abbau der Kalten Progression wurde seinem Namen also nicht gerecht.

Die Anhebung des Grundfreibetrags um die Inflationsrate ist ohnehin problematisch, da sich der Grundfreibetrag an der Veränderung des Existenzminimums orientiert – diese muss aber nicht der Inflationsrate entsprechen.15 Die Anpassung des Grundfreibetrags sollte damit unabhängig von der Kalten Progression auf Basis der Existenzminimumberichte der Bundesregierung erfolgen.

7.3.2. Verringerung der Grenzsteuersätze

Es ist nun klar, dass die Anpassung des Tarifs gleichmäßig über den gesamten Tarifverlauf erfolgen muss, damit die Kalte Progression für alle Einkommensgruppen ausgeglichen wird.

Zunächst wäre denkbar, die Eckwerte des Tarifs vertikal anzupassen, also die Grenzsteuersätze zu verringern. Dies wäre jedoch unsystematisch, da sich das zvE durch die Inflation horizontal auf der Tarifkurve verschiebt. Irgendwann befänden sich alle Stpfl. in der obersten Tarifzone, deren Grenzsteuersatz sich aber immer weiter verringert. Hierdurch ginge nicht nur der Umverteilungseffekt der Progression verloren, auch das Steueraufkommen würde sich immer weiter verringern. Diese Methode führt daher nicht zum Ziel.

7.3.3. Rechtsverschiebung des Tarifs

Sinnvoller ist es, die gesamte Tarifkurve wie im Familienentlastungsgesetz „nach rechts [zu] verschieben“16, sodass derselbe Steuersatz erst bei einem höheren zvE gilt. Allerdings erfolgt keine Verschiebung um einen absoluten Betrag, sondern um einen Prozentwert. Der Tarif wird also gestreckt.

Dar. 8 zeigt die Veränderung des ESt-Tarifs 2019, wenn er (erneut zur besseren Sichtbarkeit) um 10 % gestreckt wird (Tarif 2019 gepunktet).

zvE 0 € 10.000 € 20.000 € 30.000 € 40.000 € 50.000 € 60.000 € 70.000 € 80.000 € 90.000 € 100.000 € Grenz-steuersatz 0 % 5 % 10 % 15 % 20 % 25 % 30 % 35 % 40 % 45 % 50 %
Dar. 8: Auswirkung der Rechtsverschiebung auf die Tarifkurve

Durch die prozentuale Anpassung wird der Tarif im oberen Bereich in absoluten Zahlen stärker gestreckt als im unteren Bereich. Dies ist auch gewünscht, denn ein prozentualer Anteil eines großen zvE ist größer als derselbe prozentuale Anteil eines kleinen zvE.

Die Rechtsverschiebung (hier der zvE und des Tarifs um je 2 %) wirkt sich wie folgt auf den verbleibenden Verlust aus der Kalten Progression aus:

zvE 0 € 30.000 € 60.000 € 90.000 € 120.000 € 150.000 € 180.000 € 210.000 € 240.000 € 270.000 € 300.000 € VerbleibenderVerlust 0 % 0,1 % 0,1 % 0,2 % 0,3 % 0,2 % 0,4 % 0,5 % 0,3 % 0,6 % 0,7 % 0,4 % 0,8 %
Dar. 9: Verbleibender Verlust aus der Kalten Progression nach Rechtsverschiebung

Durch die Rechtsverschiebung wird die Kalte Progression für alle Einkommensgruppen bis auf durch § 32a Abs. 1 S. 6 EStG verursachte Rundungsfehler vollständig ausgeglichen. Dabei kommt es nicht darauf an, wie stark man den Tarif anpasst. Die Höhe der Inflationsrate ist also für die Wirkung des Ausgleichs unbeachtlich, solange die Anpassung der tatsächlichen Inflationsrate entspricht. Die Rechtsverschiebung ist somit der richtige Weg zum Ausgleich der Kalten Progression.

7.3.4. Deflationierung des zu versteuernden Einkommens

Dasselbe Ergebnis ließe sich erzielen, wenn nicht der Tarif verändert wird, sondern stattdessen das zvE deflationiert wird, also auf den Geldwert des Jahres zurückgerechnet wird, zu dem der geltende Tarif verabschiedet wurde. Die auf dieser Basis ermittelte Steuer würde dann wieder auf den aktuellen Geldwert umgerechnet werden.17 Dieses Verfahren wäre der Regelung zum Ehegattensplitting in § 32a Abs. 5 EStG technisch sehr ähnlich, da auch hier das zvE zur Berechnung der Steuer erst halbiert und die Steuer anschließend wieder verdoppelt wird. Lediglich der Divisor wäre bei der Deflationierung zum Ausgleich der Kalten Progression nicht 2, sondern die Inflationsrate.

Im Gegensatz zur Rechtsverschiebung des Tarifs ist für diese Methode keine Gesetzesänderung18, sondern lediglich die Veröffentlichung der anzuwendenden Inflationsrate in einer Verordnung notwendig. Diese Methode erfordert jedoch einen höheren administrativen Aufwand und ist schwerer verständlich.19 Daher sollte die Rechtsverschiebung als einmaliger Aufwand des Gesetzgebers bevorzugt werden.

7.4. Mögliche Ausgleichsmethoden außerhalb des direkt progressiven Tarifs

Gemäß Abschnitt 3.5.2 wären lineare ESt-Tarife (Flat Tax) prinzipiell ebenfalls zulässig. Da das Existenzminimum freigestellt werden muss, scheint es jedoch unumgänglich, im Tarif einen Grundfreibetrag vorzusehen. Der deutsche ESt-Tarif muss demnach mindestens indirekt progressiv gestaltet werden.

Da der Progressionsgrad eines indirekt progressiven Tarifs allerdings geringer ist als der des derzeitigen direkt progressiven Tarifs, wäre die Auswirkung der Kalten Progression ebenfalls geringer. Würde man eine Flat Tax einführen, könnte man demnach eher auf den Ausgleich der Kalten Progression verzichten. Wie in Abschnitt 3.5.2 festgestellt wurde, hätte ein solcher Tarif jedoch auch Nachteile.

Es wäre theoretisch auch denkbar, die Kalte Progression durch politische Maßnahmen außerhalb des Steuerrechts auszugleichen. So könnte die Inflation durch geldpolitische Maßnahmen auf null gesenkt werden, wodurch die Kalte Progression gar nicht erst entstehen kann. Eine solche Maßnahme hätte jedoch große wirtschaftliche Auswirkungen. Alternativ könnten die durch die Kalte Progression geringeren Netto-Realeinkommen durch Lohnerhöhungen ausgeglichen werden. Wenn man bedenkt, dass ein Ausgleich der Kalten Progression direkt im Steuertarif möglich ist, erscheinen beide Maßnahmen (ganz abgesehen von der Frage, ob sie überhaupt durchführbar sind) jedoch geradezu absurd.